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Farben

Im Allgemeinen waren die Einwohner der kleinen Stadt Vita ein recht besonnenes, ruhiges Völkchen. Sie mochten sanfte Musik, freundliche Literatur mit happy-ends, und sie liebten es ganz besonders, gemütlich im Garten zu liegen und mit einem Glas Saft in der Hand die Sonne zu genießen.
Wir, die wir sie nun ausgerechnet heute kennenlernen, brauchen unbedingt diese Vorinformation, denn heute waren sie keineswegs so ruhig. Ganz im Gegenteil. Wenn man vor dem Rathaus stand, war eine Art Brausen zu hören von den vielen erregten Stimmen derer, die sich darin versammelt hatten.
"Das ist doch - ganz - klar!" hob sich der energische Tenor des dicken Goldschmiedemeisters Waldemar von dem allgemeinen Stimmengewirr ab, "Das Gelb muss weg. Gelb ist die Farbe des Neides, das weiß doch jeder. Und außerdem braucht man kein Gelb mehr, wenn man Gold hat. Es sieht dagegen doch nur blaß aus."
Mit heftig herumwedelnden Händen entgegnete Lehrer Friedebald, sein leidenschaftliches Plädoyer auch noch durch sein bewegtes Mienenspiel unterstützend: "Blödsinn! Gelb - Blödsinn! Rot - Rot - Rot, sage ich nur. Die Farbe der Gefahr, die Farbe des Bösen, die Farbe vergossenen Blutes, die Farbe..."
"Blau!" unterbrach ihn Hedwig, die spindeldürre Besitzerin des kleinen Tante-Emma-Ladens, "Ich bin dafür, dass diese kalte Farbe verschwindet. Ich friere immer schon, wenn ich nur daran denke. Und die Tintenkleckse, die mein Sohn mit seinem Füller stets und ständig auf meiner frischgewaschenen weißen Tischdecke hinterläßt, wären damit auch erledigt." Beifallheischend schaute sie in die Runde.
"Also ich bin für Grün!" piepste ein hohes Stimmchen, das der kleinen Brunhilde gehörte, "Bei Grün muss ich nämlich immer dran denken, wie mir mal soooo schlecht geworden ist und dann hinterher..."
"Erspar uns die Einzelheiten bitte", fiel ihr Bürgermeister Ildefons ins Wort. Dann stand er auf, stellte sich gerade hin, blickte über die versammelten Bürger hinweg, bis sie langsam still wurden, holte dann tief Luft und begann: "Nun, ich denke, diese Diskussionen führen uns nicht weiter. Ihr wisst alle, dass uns der König auf unseren Antrag, die Farbenvielfalt aus Gründen der Übersichtlichkeit und weil einige Farben einfach häßlich sind - wie zum Beispiel das Braun mit seiner eindeutigen Verbindung zu Dreck und Schlamm; das nur so als kleiner Einwurf - äh - wo war ich stehengeblieben? Ach ja: also, dass uns der König auf diesen unseren Antrag zur Reduzierung der Farben zunächst erst einmal nur eine erlassen hat. Wir müssen uns also entscheiden. Darum schlage ich vor, dass wir per Handzeichen abstimmen."
Zustimmendes Gemurmel erhob sich, und erwartungsvoll rückte man sich auf den Stühlen zurecht.
Die Abstimmung begann. Eine Farbe nach der anderen wurde genannt, und Finger reckten sich in die Höhe. Konstantin, der Amtsdiener, zählte und schrieb.
Dann waren alle Farben genannt. Jeder hatte sich für eine entschieden. Der Bürgermeister beugte sich mit zwei Stadträten gespannt über das Ergebnis - doch ihre Mienen wurden immer länger: man war zu keinem Ergebnis gekommen. Sage und schreibe fünf Farben hatten die gleiche Anzahl an Stimmen bekommen! Was sollte nun geschehen? Ratlosigkeit machte sich breit. Doch dann machte einer einen guten Vorschlag: man solle den König fragen, ob er ihnen nicht jede Farbe an jeweils einem Tag zur Probe entlassen könne, dann würde man doch herausfinden, welche am dringendsten weg müsse. Das war ein kluger Rat, fanden alle, und so schickte man noch am selben Tag einen Boten zu Pferde zum König.
Nun kann man sich sicher denken, wie gespannt die ganze Stadt dessen Rückkehr erwartete! Aber sie mussten sich drei Tage gedulden, bis sie alle wieder in den Rathaussaal beordert wurden.
Der Antrag war angenommen worden. Ab morgen würde ihnen also jeden Tag eine andere Farbe fehlen.

Als Goldschmiedemeister Waldemar am nächsten Morgen erwachte, wusste er sofort, dass heute sein Tag war. Heute war nämlich Gelb an der Reihe. Und richtig, auf seiner geblümten Bettwäsche fehlten die gelben Schlüsselblumen. Er lachte glucksend und zufrieden. Dann wälzte er sich aus dem Bett. Während er sich anzog, fiel sein Blick aus dem Fenster und auf die davor liegende Wiese. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, was daran so anders war: sie war sonst immer übersät von Löwenzahn. Das war sie jetzt auch noch, aber man sah es nur, wenn man ganz genau hinsah, denn die Blüten waren genauso grün wie die Blätter. Fast fand Waldemar das ein wenig schade... aber naja, man musste ja schließlich an all das Negative denken, das nun verschwunden war. Der Gedanke machte ihn wieder froh.
Als er aus der Tür trat, um zu seiner Goldschmiedewerkstatt zu gehen, musste er die Augen schließen. Was war denn das? Warum war es denn nur so unerträglich hell am frühen Morgen? Die Sonne strahlte mit einem grellen, weißen Licht vom Himmel. Alle Menschen, denen Waldemar begegnete, trugen Sonnenbrillen. Natürlich - auch das gelbliche Licht der Sonne hatte sich verändert...
Schon ein wenig bedenklicher gestimmt, betrat er seine Werkstatt. Nun würde die kunstvolle Halskette, an der er gerade arbeitete, aber besonders strahlen...
"Aber - aber - ", stammelte er, als er davor stand. Das konnte doch nicht wahr sein! Glänzen tat das Gold zwar - aber es war farblos geworden und sah armseliger aus als Eisen!
Schwer ließ sich Waldemar auf einen Stuhl fallen. Vielleicht war Gelb doch nicht die schlechteste Farbe?

Der nächste Morgen dämmerte heran. Lehrer Friedebald schaute aus dem Fenster, sobald er mit gewohntem Elan aus seinem Bett gesprungen war. Gott sei Dank, die Sonne schien wieder warm und golden auf die erwachende Welt.
"Ich habe ja gleich gesagt, dass es Blödsinn sei, das Gelb wegzulassen", murmelte er selbstzufrieden. Heute würde sich ja nun zeigen, dass er mit Rot recht gehabt hatte.
"Was ist das denn?" fragte er seine Frau angewidert, als sie ihm ein duftendes Brötchen reichte, auf dem eine seltsam farblos-weißliche Masse verteilt war.
"Erdbeermarmelade", antwortete sie und sah ihn mit diesem vielsagenden Blick an, den er schon gewohnt war zu übersehen. Heute allerdings blieben seine Augen an ihrem Gesicht haften.
"Was ist denn mit dir? Geht es dir nicht gut?" fragte er, ehrlich besorgt, denn sie war wirklich ganz außergewöhnlich blass.
Der spöttische Zug um ihre Mundwinkel vertiefte sich. "Du hast wohl heute noch nicht in den Spiegel gesehen?" gab sie zurück.
Ach so - rote Wangen und Lippen... Er kratzte sich nachdenklich am Kopf.
Noch nachdenklicher wurde er aber, als ihn später seine Schüler auslachten, weil er ihnen das Diktat unkorrigiert zurückgegeben habe - dabei hatte er sich doch noch bis spät in die Nacht mit dem Rotstift durch die vielen Fehler gekämpft...

Der nächste Tag war ein Feiertag, und Hedwig ließ ihren Tante-Emma-Laden geschlossen. Sie freute sich auf einen Ausflug mit ihrer Familie. Während sie frühstückten ("widerlich früh", wie ihre halbwüchsige Tochter maulend bemerkte), fielen die ersten Sonnenstrahlen ins Esszimmer. Hedwig rieb sich die Hände. Das begann ja richtig vielversprechend.
Als sie aus dem Haus traten, war der Himmel bedeckt und die Sonne verschwunden. Aber Hedwig blieb zuversichtlich. Sie würde schon wieder herauskommen.
Der See, an dem sie ihr Picknick machen wollten, war seltsam graubraun. Das Wasser sah nicht sehr einladend aus. Und die Vergißmeinnicht, die am Waldrand blühten, waren ebenfalls häßlich grau. Hedwig runzelte die Stirn.
Als dann aber die Sonne wieder hervorkam und warm vom Himmel strahlte, der aber dabei grau blieb, obwohl keine Wolken mehr zu sehen waren, da seufzte sie auf und gestand sich endgültig ein, dass auch Blau nicht fehlen durfte...

Nicht anders erging es am nächsten Tag der kleinen Brunhilde - als sie auf die Wiese hinauslief, wollte sich auf dem grauen Zeug gar nicht die rechte Lust zum Spielen einstellen. Der Wald sah aus wie tot, und der kleine Laubfrosch sah sie aus seinem Terrarium richtiggehend anklagend an - naja, graue Laubfrösche sahen auch wirklich nicht sehr schön aus...

Und auch Bürgermeister Ildefons erkannte, als er am darauffolgenden Tag sein Wohnzimmer mit den kostbaren Mahagonimöbeln betrat, die allesamt ihren warmen, rotbraunen Farbton gegen ein schmutziges Hellgrau eingetauscht hatten, dass er eigentlich auch auf das Braun nicht verzichten wollte.

Als sich am letzten Tag der Farb-Entfernungs-Probephase wieder alle Viter im Rathaussaal versammelten, waren keine erregten Diskussionen zu hören. Alle saßen recht kleinlaut auf ihren Stühlen, und auch der Bürgermeister schien sich so zu fühlen, als er schließlich aufstand und zu sprechen begann:
"Nun ja..." er räusperte sich lautstark und wollte dann weitersprechen, doch in diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes: man hörte, wie jemand die Treppe heraufkam. Schnell sah Ildefons über die Versammelten hin - es waren alle da, keiner fehlte.
Jetzt öffnete sich die Tür, und ein Mann trat herein. Er hatte ein freundliches Gesicht und war einfach gekleidet. Zuerst erkannten sie ihn nicht, doch dann sprangen alle auf: es war der König!
"Bleibt doch sitzen!" forderte er sie auf, während er nach vorn ging, dem Bürgermeister, der knallrot angelaufen war, die Hand schüttelte und sich dann zu den Sitzenden umwandte.
"Nun", fragte er, "Für welche Farbe habt ihr euch entschieden?" Freundlich, aber ernst sah er in jedes der ihm zugewandten Gesichter. Nicht nur das des Bürgermeisters war rot geworden. Betretenes Schweigen machte sich breit.
Schließlich fasste sich der dicke Goldschmied Waldemar ein Herz und antwortete leise und stockend:
"Für keine, Herr König. Wir haben erkannt, dass alle wichtig sind. Sie sind gut so, wie Ihr sie uns gegeben habt, und es war anmaßend von uns, zu meinen, es gäbe schlechte und gute Farben..."
Der König nickte und blickte mit einem herzerwärmenden Lächeln wieder jeden an.
"Da habt ihr etwas Wichtiges gelernt. Jede Farbe ist wichtig, auch wenn sie negative Seiten hat. Erst alle zusammen machen das Leben schön und gut. Geht jetzt nach Hause und vergesst das nicht: auch manches scheinbar Schlechte hat seinen tieferen Sinn im Leben..." Damit nickte er ihnen noch einmal zu und verschwand dann wieder so schnell, wie er gekommen war. Sie hörten nur noch das Hufgetrappel seines davongaloppierenden Schimmels.
Als sie dann in den goldenen Sonnenschein hinaustraten, den strahlend blauen Himmel betrachteten, sich am grünen Laub der Linden am Marktplatz und an den leuchtendroten Geranien an den Fenstern der alten Liese freuten und in Gedanken aus dem satten Dunkelbraun des Erdbodens den herrlichsten Salat hervorsprießen sahen, da dachten alle, was für ein guter und kluger König es doch war, der ihnen so freundlich all diese Farbenpracht gegeben hatte.

© BzN

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